Unfallflucht

1. Grundlagen

2. Optische Wahrnehmung

3. Akustische Wahrnehmung

4. Taktile Wahrnehmung

 

1. Grundlagen
 

 Der Unfallanalytiker muss häufig die Frage beantworten, ob Parkplatzkollisionen vom Unfallverursacher wahrgenommen werden konnten bzw. mussten.

Leichte Fahrzeugkollisionen, wie sie grundsätzlich beim Ein- und Ausrangieren in bzw. aus Parklücken, beim Durchfahren enger Passagen, bei Wendemanövern oder beim Einordnen in den laufenden Verkehr vorkommen können, rufen Schwingungen in einem weiten Frequenzgemisch hervor, die je nach ihrer Intensität bzw. ihrer Amplitude in Frequenzlage akustisch, kinästhetisch oder auch taktil wahrnehmbar sein können. 
Dabei kommt es weniger auf die einfache Wahrnehmung, sondern auf die bewusste Wahrnehmungan. Dies bedeutet das generelle Bewusstwerden eines, den Organismus treffenden Reizes als Ergebnis von materiellen Vorgängen im Sinnesfeld des Gehirns, ausgelöst durch die von den entsprechenden Rezeptoren dorthin gelangten Informationen. Der Weg für die Aufnahme und Verarbeitung der Informationen über eine stattgefundene Fahrzeugkollision ist dementsprechend sinnesphysiologisch vorgegeben. 
Es leuchtet daher ein, dass man als Unfallanalytiker auch nur dann in der Lage ist die Fragen nach der Wahrnehmbarkeit leichter Kollisionen korrekt einzuschätzen, wenn die Arbeitsweise der in Betracht kommenden Sinnesorgane und deren Empfindung bekannt sind.

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Abb. 1: Unfallskizze

 

Die Unfallskizze (Abb. 1)  zeigt eine Parkplatzkollision, wie sie sich tagtäglich zu Hunderten ereignet. Das Fahrzeug A verlässt eine Parklücke und gerät mit der hinteren rechten Stoßstangenecke gegen den am gegenüberliegenden Fahrbahnrand abgeparkten Pkw B.
Der Fahrer des Fahrzeugs A behauptet, er habe von einem Anstoß nichts bemerkt, obschon außenstehende Zeugen sowohl den Aufprall gehört wie auch eine Wankbewegung des Pkw B gesehen haben. Von den Zeugen wird ausgesagt, dass der Fahrer des Fahrzeugs A sich nach dem Anstoß nach rechts in Fahrtrichtung wegbewegt hätte. Oftmals wird dann vom Gericht oder von der Staatsanwaltschaft ein unfallanalytisches Gutachten in Auftrag gegeben, um die Einlassung des Betroffenen zu überprüfen.

Für einen Unfallverursacher bestehen eigentlich diverse Möglichkeiten einen solchen Anstoß wahrzunehmen. Diese werden im Folgenden kurz erläutert.

 

2. Optische Wahrnehmung
 

 Als erstes wird stets das Erkennen, also die optische Wahrnehmung der Kollision genannt. Diese setzt natürlich voraus, dass der Fahrer des jeweiligen Unfall-Pkw auch die direkte Kollisionstelle einsehen kann und zugleich auch beobachtet. Der Fahrer des Fahrzeugs A hat während seines Ausparkvorganges nicht nur den hinter ihm stehenden Pkw B zu beobachten, sondern darf mit seiner rechten Fahrzeugseite den rechts von ihm stehenden Pkw nicht tangieren und mit der linken Fahrzeugseite nicht an das links von ihm abgeparkte Fahrzeug geraten. Solchermaßen muss der Pkw-Fahrer diverse Blickwechsel durchführen, um sich Sicherheit über den zur Verfügung stehenden Rangierraum zu verschaffen. 

Erkennbar war ein Anstoß möglicherweise über den rechten Außenspiegel, der allerdings die hintere rechte Fahrzeugecke des Pkw nicht punktgenau abbildet. Rückspiegel vergrößern den hinter dem Pkw liegenden Bereich großflächig, führen also zu Verzerrungen. Selbst wenn man einmal annehmen würde, dass der Pkw-Fahrer zum Kollisionszeitpunkt in den rechten Außenspiegel schaute, so bedeutet das noch lange nicht, dass er die Anstoßstelle, die möglicherweise auf Stoßstangenhöhe liegt, auch direkt hätte sehen können. Auch eine eventuelle Wankbewegung des Fahrzeugs B nimmt der Unfallverursacher weitaus schlechter wahr als ein außenstehender Zeuge, der sich voll und ganz auf das Unfallgeschehen konzentriert. Für diesen ruhenden Beobachter sind Relativbewegungen des getroffenen Pkw B wesentlich besser wahrnehmbar als für den Pkw-Fahrer, der stets Blickwechsel, Kopfdrehbewegungen etc. durchführt. 
Deswegen besitzt die optische Wahrnehmbarkeit bei der Beurteilung von Leichtkollisionen den technisch geringsten Beweiswert.

 

3. Akustische Wahrnehmung
 

Die nächsthöhere Wahrnehmungsform, nämlich das Hören eines Anstoßes wird über das Außen-, Mittel- und Innenohr bewerkstelligt. Diese Organe sind in der Lage, zumindest beim Jugendlichen, Schallwellen im Frequenzbereich von 18 bis 18.000 Hz zu übertragen und bei hinreichendem Schalldruck zu einer Empfindung zu führen. Der Gehörsinn ist nicht wie die Blickbewegung auf eine konkrete Konzentration auf die Szene beschränkt. Im Außenbereich des Pkw entsteht ein Unfallgeräusch, das von dem Unfallverursacher im Pkw mehr oder weniger gut wahrgenommen werden kann. 

Die Schallausbreitung resultiert grundsätzlich aus der Schwingung eines Körpers, die dazu führt, dass die Luftmoleküle unmittelbarer Region zueinander beschleunigt werden. Die Schallausbreitung erfolgt in Schwingungsrichtung, man spricht daher von Longitudinalwellen. Der physikalische Schalldruck wird, da wesentlich praktikabler, auf den sogenannten Schalldruckpegel umgemünzt, der in dB angegeben wird. Die subjektive Hörempfindung ist auf den sogenannten 1000 Hz-Ton genormt. Aus dem physiologischen Hörflächendiagramm kann man zudem ableiten, dass das Ohr im Bereich von etwa 2.000 bis 5.000 Hz am empfindlichsten ist. 
Zur Beantwortung der Frage, ab wann ein akustischer Reiz wahrnehmbar wird, muss man sich mit der Schwellenwertkurve des menschlichen Ohres befassen. Aus ihr ergibt sich, dass im Bereich von 100 bis 1.500 Hz mindestens 2 bis gut 3 dB Unterschied vorliegen müssen, damit zwei frequenznahe Töne voneinander unterschieden werden können. In diesem Frequenzbereich liegen typischerweise Kollisionsgeräusche. Nur dann wenn beispielsweise eine Metallstoßstange quietschend über eine Pkw-Seitenpartie hinwegschrammt, können höhere Frequenzen auftreten.

Oftmals sind Kollisionsgeräusche für außenstehende Zeugen wahrnehmbar, da in der Atmosphäre der Schallpegel bei Entfernungsverdoppelung um etwa 6 dB abnimmt. Betrachten wir ein lautes Unfallgeräusch in einer Größenordnung von 85 bis 90 dB, so wird der in unmittelbarer Nähe zum Unfallort stehende Zeuge dieses sicher hören können, weil an sein Ohr stets Lautstärkepegel von knapp 80 bis 85 dB gelangen (Abnahme 6 dB).
Dies trifft auf den Unfallverursacher so natürlich nicht zu. Der Insasse ist je nach Komfort seines Fahrzeugs mehr oder weniger gut von der Außenwelt akustisch abgeschirmt. Beim Übergang der Schallwellen von außen in den Fahrgastraum wird der Schallpegel erheblich gedämpft, wobei man als Faustregel festhalten kann, dass dies bei Kleinwagen eine Größenordnung von etwa 15 dB und bei höherklassigen Fahrzeugen von ca. 30 dB betrifft. Liegt also im Außenraum ein Anstoßgeräusch von 85 dB vor, so gelangen ins Innere des Fahrzeugs, sofern es sich um ein höherklassigen Pkw handelt, weniger als 60 dB.Sofern es im Inneren des Pkw vollkommen ruhig ist, vermag man ein solches Anstoßgeräusch akustisch gerade noch wahrzunehmen. Ist im Inneren des Fahrzeugs aber die Klimaanlage, ein Radio etc. eingeschaltet, ergeben sich deutlich höhere Lautstärkepegel in der Insassenzelle, mit der Konsequenz, dass das Kollisionsgeräusch völlig verdeckt werden kann. 
Viele moderne Pkw verfügen serienmäßig über eine Klimaanlage. Wird das Fahrzeug, nachdem es länger auf dem Parkplatz gestanden hat (insbesondere in den Sommermonaten), gestartet, so fährt oftmals die Klimaanlage mit entsprechender akustischer Geräuschentwicklung hoch, so dass der Fahrzeugführer, selbst wenn er das Radio nicht eingeschaltet hat, in aller Regel das Anstoßgeräusch einer Leichtkollision nicht hören kann. 
Sind demgegenüber die Seitenscheiben des Unfallverursacherfahrzeugs herunter gekurbelt, das Radio ausgeschaltet, können natürlich die Schallwellen relativ ungehindert ins Fahrzeuginnere gelangen, so dass dann das Anstoßgeräusch akustisch wahrnehmbar wird. 
Unter Berücksichtigung der Randbedingungen des jeweiligen Einzelfalls sind Aussagen zur akustischen Wahrnehmbarkeit des Kollisionsereignisses möglich. Es kommt hier aber stets auf die Frage der Fahrzeugausstattung, der eingeschalteten Nebenverbraucher etc. an.

 

4. Taktile Wahrnehmung
 

Darüber hinaus kann man eine Kollision auch fühlen oder spüren (taktile und kinästhetische Wahrnehmbarkeit). Die taktile Wahrnehmbarkeit von Fahrzeugkollisionen erfolgt über die Mechanorezeptoren in der Haut. Gerade diese Wahrnehmungsform wird durch eine Fülle äußerer Einflüsse stark beeinflusst. So macht es einen erheblichen Unterschied, ob der Unfallverursacher in seinem Fahrzeug in luftiger Bekleidung in einer einfachen Bestuhlung oder aber ob er in einem dicken Wintermantel in einem komfortablen Sessel einer höherwertigen Limousine sitzt. Dazwischen liegen wahrnehmungsspychologisch Welten.

Oftmals wird in Gutachten die Registrierung von Anstößen damit begründet, dass über den Kontakt zum Lenkrad eine starke Sensibilisierung in der Innenhand stattfindet. Dies trifft sicherlich auf Personen zu, die während der Fahrt konstant das Lenkrad fest in den Händen halten und somit für leichte Lenkraderschütterungen schon sensibilisiert sind. Übt aber ein Kraftfahrer, wie dies im Zuge von Rangierbewegungen fast immer vorkommt, Lenkbewegungen aus, so aktiviert er die Rezeptoren in seiner Innenhand allein durch das Umgreifen am Lenkrad, wodurch leichte Erschütterungen dann nicht mehr zu registrieren sind. Deswegen werden in Crash Versuchen auch die Probanden in aller Regel geringe und geringste Fahrzeugverzögerungen wahrnehmen, da sie sich voll auf das Unfallgeschehen konzentrieren. Im realen Verkehrsgeschehen sind die Fahrer in aller Regel abgelenkt - die Erschütterungen am Lenkrad oder auch an den Fahrzeugpedalen sind hierdurch schlechter spürbar.

Die kinästhetische Wahrnehmung erfolgt durch den Vestibularapparat (Gleichgewichtssinn) im Innenohr, mit dem Beschleunigungen registriert werden können. Sie ist die aussagekräftigste und eindeutigste Form für die Wahrnehmung des Kollisionsereignisses. Verschiedene Untersuchungen auch unseres Hauses haben gezeigt, dass zum Fühlen bzw. Spüren einer solchen Kollision Mindestverzögerungen erforderlich sind, die in gewissen Zeitfenstern aufgebaut werden müssen. Je geringer die Verzögerung im Verursacherfahrzeug ist und je länger es dauert, bis die Verzögerungsspitze erreicht wird, um so schlechter wahrnehmbar ist das Unfallgeschehen. Wird der Verursacher-Pkw aber sehr plötzlich durch das Unfallgeschehen abgestoppt, so entsteht im Innenfahrzeug ein großer Ruck, der viel besser wahrnehmbar ist.

Für die Einschätzung der für den Unfallverursacher wesentlichen Frage, ob das Unfallgeschehen zu fühlen oder zu spüren war, darf man sich nicht alleine auf die Beschreibung der Formfestigkeit der kontaktierenden Karosseriezonen beschränken - in aller Regel muss man einen ausreichend vergleichbaren Unfallversuch durchführen oder aber auf bereits gefahrene Unfallversuche, die zumindest Ähnlichkeit mit dem zu beurteilenden Unfallgeschehen besitzen, zurückgreifen.

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Abb. 2: Unfallverursachender VW Polo
 
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Abb. 3: Schadensbild A Opel
 
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Abb. 4: Schadenbild B Opel

 

Dies soll anhand eines konkreten Schadenfalls einmal gezeigt werden. Der in Abb. 2 abgebildete VW Polo geriet mit der vorderen rechten Stoßstangenecke gegen den seitlich dazu abgeparkten Opel Omega, der an der linken hinteren Tür eine deutliche Einformspur (Länge 20 cm, Tiefe etwa 1,5 cm) davontrug (Abb. 3 und 4).

Es war zu klären, ob dieser Anstoß vom Unfallverursacher hätte wahrgenommen werden können, bzw. müssen. Ein Vorgutachter bejahte dies, weil sich die Anstoßstelle am Opel Omega an einer eher harten Karosseriezone befände, welche unnachgiebig sei und letztlich zu einem hohen Ruck im Verursacherauto führen würde. 
Im Rahmen einer Gegenüberstellung der Fahrzeuge war zunächst festzustellen, dass der Polo unter einem Winkel von ca. 15 bis 20° gegen die hintere Tür des Opel Omega geriet. In akustischer wie auch optischer Hinsicht war das Unfallgeschehen für den Unfallverursacher nicht (sicher) wahrnehmbar, da er zum einen das Radio eingeschaltet haben will und zum anderen in die direkte Anstoßzone nicht hinein schauen konnte (Kollisionspunkt am VW Polo vorne rechts).

Es ging damit einzig und allein um die Frage, ob dies Unfallgeschehen hätte gefühlt werden können bzw. müssen.

Es wurde auf das Ergebnis eines Unfallversuches unseres Hauses zurückgegriffen, Abb. 5 und 6. Hier stieß ein Fahrzeug unter ebenfalls ca. 20° (hier allerdings mit der hinteren Stoßstangenecke) in den Abschlussbereich einer gegnerischen Fondinsassentür.

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Abb. 5: Unfallversuch Anstosskonfiguration
 

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Abb. 6: Unfallversuch Durchführung

 

Dadurch wurde an dem stehenden Fahrzeug (weißer Pkw) die hintere Tür über eine Länge von gut 10 cm eingedrückt - die Beulentiefe lag bei 0,5 cm.
Im unfallverursachenden roten Pkw war ein Unfalldatenschreiber installiert, der allerdings nicht triggerte, was bedeutet, dass die Triggergrenze, von 1 m/s2 hier nicht einmal erzielt wurde. Der Fahrer des Crash-Pkw gab an, diese Kollision weder gehört noch merklich gespürt zu haben. Er habe eine ganz leichte Verzögerung des Fahrzeugs registriert, die er aber nicht bewusst einer Kollision zuordnen konnte. Das Verzögerungssignal hätte auch von einer Bremsung stammen können, da bekanntermaßen im Zuge von rückwärtigen Fahrbewegungen oftmals auch das Bremspedal betätigt wird. 
Durch diesen Versuch war festzustellen, dass mit den Pkw-Beschädigungen im Realfall eine sehr geringe Verzögerungsspitze einhergeht (nämlich unter 1 m/s2). Überträgt man dies auf den konkreten Fall, so wird man technisch nicht beweisen können, dass das Unfallgeschehen für den Fahrer im VW Polo hätte gespürt werden können oder gar müssen.

Als Quintessenz folgt daher, dass es niemals ausreichen kann, sich allein mit der Frage der Festigkeit der kontaktierenden Fahrzeugbauteile oder dem Kollisionswinkel (spitz oder stumpf) auseinander zu setzen - zur technischen Untermauerung ist zumindest das Ergebnis eines Unfallversuches anzuführen, wenn man nicht sogar einen entsprechenden Crash-Versuch zur Fallbeurteilung durchführen muss.