Biomechanik

1. Allgemein

2. HWS Verletzungen
   2.1 Aktueller Forschungsstand
      2.1.1 Heckanstoß
      2.1.2 Seitenkollision
      2.1.3 Frontalkollision
   2.2 Belastungskenngrößen
   2.3 Interdisziplinäre Gutachtenerstattung

3. Gurtproblematik

4. Insassenposition

5. Airbag 

 

1. Allgemein
 

Biomechanische Gutachten befassen sich im Wesentlichen mit der Belastung und der Bewegung von Fahrzeuginsassen bei Verkehrsunfällen. Hierbei bilden die unten aufgeführten Bereiche die Themenschwerpunkte. Die biomechanische Gutachtenerstattung kann im Rahmen einer interdisziplinären Zusammenarbeit zwischen Technikern und Medizinern (z. B. Orthopäden oder Gerichtsmediziner) erfolgen. Hierbei werden zunächst durch den Techniker die Belastungskenngrößen im vorliegenden Unfallgeschehen ermittelt. Darauf aufbauend ist es dann ggf. die Aufgabe des medizinischen Experten, die Verletzungswahrscheinlichkeit infolge des analysierten Unfallgeschehens unter Berücksichtigung der Sitzposition sowie physischer Besonderheiten der Insassen zu beurteilen.

 

2. HWS Verletzungen
 

Ein zunehmender Anteil der biomechanischen Gutachten beschäftigt sich mit Verletzungen der Halswirbelsäule. Der Mediziner ist nur selten in der Lage, ein HWS-Trauma objektiv nachzuweisen, da die Diagnose bei leichten HWS-Verletzungen nur von den subjektiv empfundenen Beschwerden des Patienten bestimmt ist.

Informationen zum konkreten Unfallgeschehen liegen dem Mediziner in der Regel nicht vor. Neuere Untersuchungen zeigen, daß bei fast jeder (93,5 %) Pkw-Pkw-Heckkollision mit Personenschaden eine HWS-Verletzung auftritt.
Aufgrund dieser epidemiologischen Entwicklung der HWS-Verletzungen (in Deutschland jährlich ca. 400.000 bis 500.000 Verletzungen) stellt sich die Frage nach einer interdisziplinären Beurteilung der Verletzungswahrscheinlichkeit.

 

2.1 Aktueller Forschungsstand

Zur Beurteilung der Verletzungsmöglichkeit wurden in unserem Büro zahlreiche Versuche und Studien mit freiwilligen Versuchspersonen durchgeführt.

Zunächst wurden als Grundlagenuntersuchung die Belastungen ermittelt, die bei Autoskooter-Fahrten auf Jahrmärkten seit vielen Jahren problemlos von den Insassen toleriert werden. Darauf aufbauend wurden Pkw-Pkw-Heckkollisionen durchgeführt. Neben solchen Heckanstößen, bei denen auch die Belastungen im auffahrenden Fahrzeuge ermittelt wurden, also dem Fahrzeug, in dem die Fahrzeuginsassen kollisionsmechanisch einer Frontalkollision ausgesetzt sind, wurden auch Belastungen aus anderen Richtungen untersucht. Hierbei sind insbesondere Seitenkollisionen zu nennen. Zur Veranschaulichung der ermittelten Belastungskenngrößen wurden ebenfalls alltägliche Bewegungsabläufe untersucht, die problemlos ohne jegliche Verletzungsfolge ertragen werden.

 

2.1.1 Heckanstoß

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Abb. 1: Normale Sitzhaltung

Derjenige Kollisionstyp, den man am ehesten mit Verletzungen der Halswirbelsäule in Verbindung bringt, ist der sog. Heckanstoß. BeimAuffahrunfall wird ein Fahrzeug durch ein anderes Fahrzeug am Heck angestoßen und beschleunigt. Es handelt sich dabei um eine eindimensionale Kollision. Basierend auf zahlreichen Grundlagenunter- suchungen wurde im Jahre 1997 im Rahmen einer interdiszipli nären Zus ammenarbeit des Ingenieurbüros Schimmelpfennig + Becke und der Akademie für Manuelle Medizin an der Westfälischen Wilhelms-Universität Münster eine breit angelegte experimentelle Untersuchung durchgeführt. Im Rahmen dieser Studie wurden 17 Pkw- und 3 Autoskooter-Kollisionen durchgeführt. Hierbei nahmen Freiwillige im Alter von 26 bis 47 Jahren teil. Die Personen wurden vor und nach jedem Crash medizinisch untersucht. Hierbei wurde auch eine Ultraschall-Untersuchung der HWS-Beweglichkeit durchgeführt. Im Rahmen der Tests wurde Wert auf eine vollständige akustische und visuelle Abschirmung der Versuchspersonen gelegt, um eine Antizipation der Insassen zu vermeiden. Der Bewegungsablauf und die biomechanischen Beschleunigungssignale sowie die Kollisionsparameter wurden computerunterstützt aufgezeichnet. Es wurden kollisionsbedingte Geschwindigkeits- änderung von 8,7 bis 14,2 km/h erreicht. Die mittleren Beschleunigungen lagen hierbei zwischen 2,1 und 3,6 g. Bei den medizinischen Untersuchungen wurden keine Verletzungen der Freiwilligen festgestellt. Lediglich ein männlicher Proband gab nach den Versuchen über einen längeren Zeitraum von 10 Wochen eine Einschränkung der Linksrotation an. Keiner der Probanden berichtete über gravierende Beschwerden. Basierend auf den Ergebnissen dieser Studie konnte ein sog. Harmlosigkeitsbereich formuliert werden. In diesem Bereich der kollisionsbedingten Geschwindigkeitsänderungen des gestoßenen Fahrzeugs von bis zu 10 km/h ist aus technischer Sicht eine Verletzung der Halswirbelsäule nicht zu erwarten.

Neben der allgemeinen Untersuchung zur Belastbarkeit der Halswirbelsäule durch Pkw-Heckanstöße wurden auch von einer normalen Sitzhaltung abweichende Sitzpositionen untersucht.

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Abb. 2: Leicht vorgebeugte Sitzhaltung
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Abb. 3: Stark vorgebeugte Sitzhaltung

Hierbei wurde in die Bewegungsabläufe und biomechanischen Beschleunigungssignale von Kopf und Thorax bei normalen Sitzpositionen, einer leicht vorgebeugten Körperhaltung und einer extrem vorgebeugten Sitzposition aufgezeichnet. Deutlich nach vorn geneigte Sitzpositionen wurden mit der Bezeichnung FIP (Forward Inclined Position) belegt. Die kollisionsbedingten Geschwindigkeitsänderungen lagen in einem Bereich zwischen 6,7 und 7,7 km/h. Die Beschleunigungen des Versuchsschlittens lagen zwischen 1,6 und 1,9 g. Trotz mehrmaliger täglicher Beaufschlagung wurden vom Freiwilligen keine Beschwerden angegeben.

Im Vergleich zu normalen Sitzpositionen lag die Anprallintensität der Kopfstütze an den Kopf des Freiwilligen in FIP-Positionen auf deutlich geringerem Niveau. Die Analyse des Bewegungsablaufs ergab, daß sich bei der vorgebeugten Sitzposition der Rücken des Freiwilligen über die Rückenlehne gleichmäßig abrollt. Für die forensische Begutachtung ergibt sich hieraus, dass bezüglich der Anprallintensität zwischen Kopfstütze und Kopf die biomechanische Belastung bei Geschwindigkeitsänderungen bis knapp 8 km/h bei vorgebeugter Körperhaltung (FIP) deutlich geringer ist als bei normaler Sitzposition.

 

2.1.2 Seitenkollision

Neben den klassischen Heckauffahrkollisionen werden zunehmend auch HWS-Verletzungen infolge von Seitenkollisionen vorgetragen. Die Analyse dieses Kollisionstyps im Rahmen einer Gutachtenerstattung im Hinblick auf die resultierende Insassenbelastung ist anders als beim Heckanstoß. Dies liegt zum einen in der Zweidimensionalität, wodurch andere Kollisionsparameter zum Tragen kommen, sowie dem völlig anderen Bewegungsablauf der Fahrzeuginsassen begründet. Beispielsweise ist neben der eigentlichen Kollisionsdauer zur Bestimmung der auf die Insassen einwirkenden Belastung eine sog. Hauptbelastungsdauer zu beachten. Diese berücksichtigt die bei seitlichen Kollisionen möglicherweise lange Kollisionsdauer.

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Abb. 4: Seitlicher Kollisionstest

Analog zu Heckauffahrkollision wurden bereits zahlreiche Crash-Versuche zur Seitenkollisionen gefahren. Im Rahmen einer Studie zur Belastung von Fahrzeuginsassen bei leichten Seitenkollisionen wurden 10 Pkw- und 22 Schlittenversuche durchgeführt, bei denen der Bewegungsablauf von Fahrzeuginsassen bei seitlichen Kollisionen untersucht wurde. Mit einem seitlich offenen Schlitten ließen sich ohne Verletzungsrisiko Belastungen simulieren, die im geschlossenen Fahrzeug zu Kopf- und Schulterkontakten der Insassen mit Fahrzeugteilen geführt hätten. Die Bewegungsanalyse der Testpersonen im Schlittentest zeigte, daß für stoßzugewandt sitzende Fahrzeuginsassen ein Schulteranstoß an der Türverkleidung und ein leichter Kontakt des Kopfes an der Seitenscheibe oder der B-Säule schon bei geringen kollisionsbedingten Geschwindigkeitsänderungen quer zur Fahrzeuglängsachse erfolgen kann. Im Rahmen der forensischen Begutachtung sind daher neben den technischen Kollisionsparametern auch die seitlichen Raumverhältnisse im Kopf- und Schulterraum des Fahrzeugs zu ermitteln. Dabei ist auch die Größe der Insassen von Bedeutung.

 

2.1.3 Frontalkollision

Neben Heckanstößen und seitlichen Kollisionen werden auch bei Vollbremsungen und Frontalkollisionen Verletzungen der Halswirbelsäule vorgetragen. Eine Frontalkollision liegt beispielsweise für die Insassen des stoßenden Fahrzeugs bei einem Auffahrunfall vor. Die Insassenbewegung bei einem Frontalaufprall ist grundsätzlich anders als bei einem Heckanstoß. Bei einem Frontalaufprall bewegen sich die Insassen zunächst mit gleichbleibender Geschwindigkeit relativ zur Fahrgastzelle nach vorn. Diese Bewegung vollzieht sich so lange, bis der Insasse durch den Sicherheitsgurt zurückgehalten wird. Hierbei vollzieht der Kopf eine nach vorn gerichtete Bewegung, eine sog. Flexionsbewegung.

Zur Ermittlung der von Fahrzeuginsassen ohne Verletzungsfolge tolerierbaren Belastung bei Frontalkollisionen wurden in unserem Büro zahlreiche Versuche durchgeführt. Neben Autoskooter-Anstößen, bei denen ebenfalls ähnliche Bewegungsabläufe auftreten können, eignen sich Schlittentests ebenfalls gut zur Ermittlung der Belastungshöhe. Es wurden zahlreiche Gurtschlitten untersucht, die auf öffentlichen Veranstaltungen eingesetzt werden, um die Akzeptanz des Sicherheitsgurtes in der Bevölkerung zu fördern. Diese Gurtschlitten wurden analog zu den Autoskootern bereits von einer Vielzahl von freiwilligen Personen benutzt. Verletzungen im Bereich der Halswirbelsäule sind bei Gurtschlittenversuchen nicht bekannt. Die bei unterschiedlichen Gurtschlitten gemessenen kollisionsbedingten Geschwindigkeitsänderungen lagen zwischen etwa 10 und 13 km/h. Hierbei lagen allerdings verglichen mit Pkw-Pkw-Kollisionen extrem kurze Kollisionsdauern vor, die bei Gurtschlitten extrem hohe Beschleunigungen verursachen.

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Abb. 5: Schlittentest zur Frontalkollision

Im Hinblick auf die biomechanische Insassenbelastung ist physiologisch davon auszugehen, dass die Nackenmuskulatur beim Menschen wesentlich stärker ausgeprägt ist als die Halsmuskulatur . Daraus folgt, dass bei einer Vorwärtsbewegung des Kopfes, wie sie bei einer frontalen Belastung auftritt, der Muskelapparat der Nackenmuskulatur durchaus in der Lage ist, wesentlich höhere Haltekräfte aufzubringen, als die Muskelgruppen des Halses, welche eine Rückwärtsbewegung des Kopfes abfangen müssen. Praktisch bedeutet dies, dass der Mensch einen wesentlich höheren Widerstand gegen Flexionskräfte (Vorwärtsbewegung) als gegen Extensionskräfte (Rückwärtsbewegung des Kopfes) aufbieten kann. Deshalb ist es auch allgemeiner Konsens zwischen den medizinischen und biomechanischen Experten, dass die bei Heckaufprallversuchen ermittelten Harmlosigkeitswerte und Verletzungsschwellen in jedem Fall bei einer frontalen Belastung wesentlich höher liegen müssen.

Ein mit Frontalkollisionen vergleichbarer Bewegungsablauf vollzieht sich im Rahmen einer Vollbremsung eines Fahrzeugs. Hierbei bewegt sich der Körper des Insassen ebenfalls relativ zum Fahrzeug nach vorne. Das Verzögerungsniveau bei einer Vollbremsung ist jedoch verglichen mit Kollisionen gering. Hierbei werden lediglich Beschleunigungen unterhalb der Erdbeschleunigung g erreicht. Daraus folgt, dass die mit Vollbremsungen vergleichbaren Kräfte bereits beim Blick nach unten unter Einwirkung der Erdbeschleunigung auftreten. Somit ist aus technischer Sicht die Belastung infolge einer Vollbremsung nicht geeignet, Verletzungen der Halswirbelsäule angeschnallter Fahrzeuginsassen hervorzurufen.

 

2.2 Belastungskenngrößen

Die Belastung der Insassen unfallbeteiligter Fahrzeuge lässt sich durch biomechanische Kenngrößen beschreiben. Diese Kenngrößen werden durch den technischen Sachverständigen ermittelt. Deren Ermittlung liegen kollisionsmechanische Parameter zugrunde.

Um die kollisionsmechanischen Parameter zu bestimmen, ist die Kollision zu analysieren. Eine Kollision läuft nach einem gleichbleibenden Grundschema ab. Zunächst vollziehen die unfallbeteiligten Fahrzeuge in der vorkollisionären Phase die sog. Einlaufbewegungen. Der Beginn der sich anschließenden Kollision wird prinzipiell durch den ersten Kontakt der Fahrzeuge bestimmt, wodurch es zu einem Kraftaustausch kommt. Danach vollzieht sich bei einer Pkw-Pkw-Kollision aufgrund des teilelastischen Charakters die sog. Restitutionsphase, wobei sich die Fahrzeug- schwerpunkte wieder voneinander weg bewegen. Findet kein Kraftaustausch und somit keine Beschleunigung der Fahrzeuge mehr statt, so ist die Kollision beendet. Anschließend folgen die Auslaufbewegungen der Fahrzeuge.

Die Geschwindigkeit der Fahrzeuge zu Kollisionsbeginn nennt man Kollisionsgeschwindigkeit. Die Geschwindigkeit, mit der sich die Fahrzeuge aufeinander zubewegen, wird als Differenz- bzw. Relativgeschwindigkeit bezeichnet. Diese Geschwindigkeit beschreibt somit die Bewegung zweier Fahrzeuge relativ zueinander. Bei einer Kollision wird bei einem Auffahrunfall das stoßende Fahrzeug verzögert und das gestoßene Fahrzeug beschleunigt. Hierdurch kommt es zu einem Abfall bzw. zu einem Anstieg der Absolutgeschwindigkeiten der Fahrzeuge. Somit erfahren die Fahrzeuge eine kollisionsbedingte Geschwindigkeitsänderung . Diese Geschwindigkeitsangabe beschreibt die Geschwindigkeitsdifferenz eines Fahrzeuges zwischen Kollisionsbeginn und Kollisionsende. Am Ende der Kollision haben die Fahrzeuge die sog. Kollisionsausgangs - oder auch Stoßausgangsgeschwindigkeit inne. Das Verhältnis der Relativgeschwindigkeiten der Fahrzeuge zu Kollisionsbeginn und Kollisionsende wird durch den sog. k-Faktor beschrieben. Dieser ist ein Maß für die Teilelastizität der Kollision. Dieser k-Faktor geht auf frühere Versuche zurück, anhand derer die Teilelastizität als Materialkonstante untersucht werden sollte. Bei diesen Versuchen wurden verschiedene Materialien aus einer definierten Höhe fallen gelassen und die Rückprallgeschwindigkeit gemessen. Hieraus wurde der sog. vollplastische Stoß (k=0, z.B. Knetgummi) oder vollelastische Stoß (k=1, z.B. Billardkugel) abgeleitet. Aus der Erfahrung vieler Crash-Tests ergibt sich, daß der k-Faktor hauptsächlich von der Relativgeschwindigkeit der Fahrzeuge sowie von deren Überdeckungsgrad abhängig ist.

Prinzipiell gibt es mehrere Möglichkeiten, die während einer Kollision auf die Fahrzeuge einwirkende Beanspruchung zu beschreiben. Es gelingt einerseits mit der Beschreibung der auf die Fahrgastzelle einwirkenden Beschleunigung über die Zeit und andererseits mit der Angabe der kollisionsbedingten Geschwindigkeitsänderung (delta v). Die detailliertere Methode ist die Beschreibung des zeitlichen Verlaufs der Beschleunigungen. Er ist jedoch für den technischen Laien häufig sehr abstrakt und daher schwierig nachzuvollziehen. In der internationalen Literatur hat sich daher, wie auch im Rahmen des Gutachtenwesens, die Angabe der Geschwindigkeitsänderung (delta v) durchgesetzt. Da mit zunehmender Beanspruchung der Fahrzeugkarosserie auch die Höhe der biomechanischen Insassenbelastung ansteigt, handelt es sich bei der kollisionsbedingten Geschwindigkeitsänderung nach heutigem wissenschaftlichen Kenntnisstand um einen der aussagekräftigsten technischen Kollisionsparameter zur Beurteilung der biomechanischen Insassenbelastung.

Die sog. Kollisionsdauer beschreibt den Zeitraum einer Kollision. Diese liegt bei Pkw-Pkw-Heck- bzw. Frontalkollisionen bei etwa 1/10 Sekunde (0,1 s). Insbesondere bei Streifkollisionen kann diese Kollisionsdauer deutlich ausgeprägter sein. Dagegen liegen bei z. B. Gurtschlitten vergleichsweise extrem kurze Kollisionsdauern vor. Die Fahrgastzellenbeschleunigung ist über die Kollisionsdauer mit der kollisionsbedingten Geschwindigkeitsänderung verknüpft. Bei durchschnittlichen Kollisionsdauern, wie sie z. B. bei Heckanstößen auftreten, ist somit die Angabe der kollisionsbedingten Geschwindigkeitsänderung im Hinblick auf die Beschreibung der Insassenbelastung ähnlich aussagekräftig wie die Angabe der Fahrgastzellenbeschleunigung. Liegen jedoch stark abweichende Kollisionstypen vor, so ist neben der kollisionsbedingten Geschwindigkeitsänderung auch die Angabe der Fahrgastzellenbeschleunigung sinnvoll.

 

2.3 Interdisziplinäre Gutachtenerstattung

Im Rahmen einer interdisziplinären Gutachtenerstattung wird zunächst vom technischen Sachverständigen auf Basis der kollisionsmechanischen Parametern die biomechanische Belastung der Fahrzeuginsassen im Unfallgeschehen bestimmt. Darauf aufbauend obliegt es dem medizinischen Sachverständigen, unter Berücksichtigung der Belastungshöhe eine Verletzungswahrscheinlichkeit infolge des zu begutachtenden Unfallgeschehens anzugeben.

Um dem medizinischen Sachverständigen möglichst genaue Ergebnisse zu liefern ist der Unfallsachverständige auf ein umfangreiches Analysematerial angewiesen. Je vollständiger dies ist, in desto engeren Toleranzen kann die Insassenbelastung bestimmt werden. Zur Gutachtenerstattung sollten Informationen bezüglich des Unfallgeschehens, der beteiligten Fahrzeuge sowie der Insassen vorliegen.

 

3. Gurtproblematik
 

Trotz intensiver Aufklärung (z.B. anhand von Gurtschlitten) und Strafandrohung werden nach wie vor die Sicherheitsgurte nicht von allen Fahrzeuginsassen benutzt. Die Argumente gegen das Tragen eines Anschnallgurtes sind dabei vielfältig. So wird ein Gurt als unangenehm und unbequem empfunden. Manch einem wirkt bereits das Anlegen eines Gurtes bedrohlich, da dies mit der Möglichkeit einer Kollision in Verbindung gebracht wird. Um den Gedanken an eine solche Kollision zu unterdrücken, wird von der Benutzung des Gurtes abgesehen. Vielfach existiert auch noch die Annahme, man könne sich bei Kollisionen auf geringem Geschwindigkeitsniveau problemlos mit den Händen am Lenkrad abstützen.

Da somit nicht bei jeder Kollision von einer Benutzung der Sicherheitsgurte durch sämtliche Insassen ausgegangen werden kann, stellt sich für den forensischen Sachverständigen oftmals die Frage, ob die Insassen ordnungsgemäß anschnallt waren oder nicht. Diese Problematik geht stets mit der Fragestellung einher, ob die bei dem vorliegenden Unfall erlittenen Verletzungen mit einer Gurtbenutzung vereinbar sind bzw. ob die erlittenen Verletzungen auch bei Benutzung des Gurtes entstanden wären.

Zur Beantwortung der oben aufgeworfenen Fragestellung ist ggf. eine interdisziplinäre Zusammenarbeit zwischen Technikern und Medizinern erforderlich. Der Techniker analysiert das Unfallgeschehen und ermittelt die biomechanischen Belastungen. Hierzu zählt das Geschwindigkeitsänderungsniveau bzw. die einwirkende Beschleunigung. Insbesondere im Hinblick auf die Gurtproblematik ist die Insassensitzposition und die Belastungsrichtung von Bedeutung. So kann ein Gurt - auch im Zusammenwirken mit anderen Systemen (z.B. Airbag) - bei Frontalbelastungen hohen Insassenschutz bieten. Bei seitlichen Anstößen dagegen ist die Wirkung des Sicherheitsgurtes begrenzt.

 

4. Insassenposition
 

Teilweise ist nach Verkehrsunfällen eine eindeutige Bestimmung der Sitzposition der Fahrzeuginsassen bei Eintreffen der Polizei nicht mehr möglich. Insassen können z.B. infolge der Kollision aus dem Fahrzeug geschleudert worden sein. Manchmal soll auch die Ermittlung des tatsächlichen Fahrers absichtlich verhindert werden. In derartigen Fällen besteht die Möglichkeit, durch eine interdisziplinäre Begutachtung des Unfallgeschehens die Positionen der einzelnen Fahrzeuginsassen zu rekonstruieren. Hierbei kann der Bestimmung des Fahrzeugführers große Bedeutung zukommen.

 

5. Airbag
 

Airbags bilden im Zusammenhang mit dem Sicherheitsgurt einen elementaren Anteil moderner Sicherheitskonzepte. Ab einer Wandaufprallgeschwindigkeit von ca. 25 – 30 km/h reduziert der Airbag maßgeblich die Insassenbelastung. Unterhalb dieser Auslöseschwelle bieten die herkömmlichen Sicherheitsgurte mit Gurtstraffern einen ausreichenden Insassenschutz.

Durch eigene Untersuchungen und Vergleichsversuche aus der Industrie kann untersucht werden, ob der Airbag in konkreten Unfallsituationen zum Schutz der Insassen beigetragen hat oder ob er zum Schutz der Insassen hätte beitragen können. Ebenfalls kann untersucht werden, warum ein Airbag nicht ausgelöst wurde, obwohl die Auslöseschwelle übertreten wurde.